Aus dem Französischen
von Tabea A. Rotter
Emmanuel Todd
in Zusammenarbeit mit Baptiste Touverey
Diese deutsche Ausgabe von La Défaite de l’Occident ist für mich die wichtigste von allen. Denn Deutschland – in vielen internationalen Kommentaren als unschlüssig, schwach, kurzum als bloßer Nebenakteur im Ukrainekrieg präsentiert – steht in Wahrheit im Zentrum des Konflikts.] Seit dem Irakkrieg und den gemeinsamen Pressekonferenzen von Wladimir Putin, Gerhard Schröder und Jacques Chirac leben die Vereinigten Staaten in Angst vor einer strukturellen Annäherung zwischen Deutschland und Russland, die das Ende des US- amerikanischen Einflusses auf Europa bedeuten würde. Von diesem Standpunkt aus betrachtet stellt es für die Vereinigten Staaten einen maßgeblichen Erfolg dar, dass sie die Europäische Union in einen Konflikt mit Russland verwickeln konnten, sogar auf die Gefahr hin, deren Wirtschaft mehr zu schaden als der Russlands. Die energiepolitische und industrielle Verbindung zwischen Deutschland und Russland ist zum aktuellen Zeitpunkt zusammengebrochen.
Es bleibt die Tatsache, dass Deutschland, im Gegensatz zum Vereinigten Königreich und Frankreich, die fortschrittlichsten Arten von militärischem Engagement abgelehnt hat. Und vor allem ist der Konflikt natürlich noch nicht vorbei. Die Vereinigten Staaten werden diesen Krieg verlieren, weil ihre industriellen und militärischen Mittel gegen ein wiedererstarktes Russland unzureichend sind. Die bevorstehende Niederlage der Ukraine sowie die Erniedrigung des Pentagons und der NATO werden die Frage nach den künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder aufkommen lassen. Dann wird Deutschland zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen.
Für Deutschland ist dies ein sehr altes Thema. Dieses Buch ist ein nüchternes, das Buch eines Historikers und Anthropologen, der danach strebt, die Geopolitik zu verstehen, ohne sich den Emotionen hinzugeben. Es geht um industrielle und bildungspolitische Machtverhältnisse, um traditionelle Familienstrukturen, deren Prägung fortbesteht, und um eine religiöse Prägung, die hingegen verschwindet. Max Weber weiterdenkend, führe ich den Zerfall des Westens auf den Zerfall der protestantischen Ethik zurück Auf die Gefahr hin mich zu täuschen, glaube ich, dass Deutschland kühle Rationalität im Moment um einiges mehr braucht als Emotionen.
Eine gängige Methode der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs zur Manipulation Deutschlands besteht darin, das historisch verankerte Schuldgefühl der Deutschen, hervorgegangen aus den katastrophalen Erfahrungen der NS-Zeit, zu benutzen, um Deutschlands Bedürfnis anzuregen, endlich wieder auf der »richtigen Seite der Geschichte« stehen zu wollen. Heute zum Beispiel, indem Deutschland die »liberale Demokratie« gegen ein »autokratisches« oder »neostalinistisches« Putin-Regime verteidigt.
Doch unglücklicherweise ist der Westen, wie ich beweisen werde, nicht länger demokratisch und die Vereinigten Staaten werden inzwischen vom Nihilismus heimgesucht so wie Deutschland in den 1930er-Jahren. Der Kern des Buches, das zuerst die russische, die ukrainische und dann die zentraleuropäische sowie westliche Gesellschaft untersucht, ist schlussendlich dennoch die Analyse der regressiven Dynamik der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Fall des Westens wird nicht durch einen russischen Sieg, sondern durch einen Zerfall der USA von innen heraus erfolgen. Einen Krieg des Westens im Tiefland der Ukraine, weniger als 1 000 Kilometer von Moskau entfernt, zu unterstützen, bedeutet für Deutschland also nicht, endlich auf der richtigen, sondern erneut – wie aus Versehen – auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.
Selbstverständlich müssen wir alle die Vergangenheit berücksichtigen. Aber das Erste, das wir tun müssen, wenn wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen möchten, ist dennoch, die Gegenwart richtig zu analysieren. Es geht darum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dort zu sehen, wo sie sind, und zwar jetzt, ohne sich den Verstand von den Geistern der Vergangenheit vernebeln zu lassen, noch bevor man überhaupt angefangen hat zu beobachten, zu analysieren, zu reflektieren.
Paris, im Sommer 2024
https://westendverlag.de/Der-Westen-im-Niedergang/2176
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